Wie eine Feder von Gott getragen
So etwas hat es in der Wallfahrtskirche St. Hildegard noch nie gegeben: Aus allen Bankreihen ist an diesem 9. Mai mitten im Gottesdienst mehr oder weniger lautes Pfeifen zu hören. Vorgemacht hat es Bischof Georg Bätzing höchst persönlich. Und es geht noch lauter, so laut wie die Heilige Hildegard, die „Posaune Gottes“: Überraschend echt führt er in seiner Predigt vor, wie das Instrument klingt. Davor bereits hatte er die Anwesenden mit der Frage „Wollen wir probieren, ob wir leben?“ zum tiefen Ein- und Ausatmen animiert. Und zu guter Letzt lässt er kleine Federn verteilen, in rot und blau, gelb und rosa: „Seid leicht wie eine Feder, dann kann Gott uns tragen“, sagt er und nennt damit das Leitmotiv des Festtages, mit dem in Eibingen die zweite Hildegard-Wallfahrtszeit eröffnet worden ist.
Dass der Bischof so anschaulich vom Geheimnis des göttlichen Atems erzählt, der den Menschen das Leben gibt und auch ängstlichen Leuten Mut macht, für Jesus einzustehen, dass alle Texte an diesem Tag in leichter Sprache verfasst sind, hat einen guten Grund: Nach Eibingen sind heute Menschen mit und ohne Behinderung gekommen, um „Hildegard besser kennenzulernen“, die der Bischof als „enge Freundin von Jesus“ vorstellt. Begonnen hat der Tag am Morgen in der Abtei St. Hildegard, wo die Wallfahrer von den Ordensschwestern mit Worten und Gesang begrüßt werden. „Auf den Spuren Hildegards können wir das Motto entdecken: Barrierefrei gemeinsam glauben“, sagt die Äbtissin, Schwester Dorothea Flandera. Hildegard habe selbst an Krankheiten und Schwäche gelitten. „Und wir wissen, dass wir alle versehrt sind und auf gegenseitige Hilfe angewiesen.“
In kleinen Gruppen geht es anschließend auf dem Pilgerweg durch die Weinberge. Wer mag, kann unterwegs Halt machen. Impulse, Lieder, Hildegard-Texte und Fragen zum Nachdenken für vier Stationen können – auch das eine Premiere – über die App Actionbound unter dem Stichwort Hildegard auf dem Smartphone abgerufen werden. „Schön, dass Du da bist: herzlich willkommen auf den Wegen der Heiligen Hildegard“, heißt es da zum Start. Es geht um das Wasser, die Grün-Kraft und um das kleine Symbol, das viele Pilger heute, ob mit oder ohne App, fasziniert. „Feder, wo bist Du?“ ruft eine Teilnehmerin vom Hofgut Nothgottes, einer Außenwohngruppe des Sankt Vincenzstiftes. Eifrig hält sie am Wegesrand Ausschau und nimmt schließlich mit einem filigranen Zweiglein vorlieb.
Am Ziel angekommen, gibt es in der Kirche zuerst den goldenen Hildegard-Schrein zu bestaunen, der zur Feier des Tages nach unten getragen worden ist und jetzt ganz barrierefrei in Augenhöhe steht. Später im Gottesdienst wird Bischof Bätzing sogar noch ein kleines Türchen an dem kostbaren Reliquien-Behältnis öffnen, damit alle Anwesenden Hildegard, wie er sagt, „noch näher sein können“. Zuvor aber heißt es jetzt, den neu gestalteten, jetzt komplett barrierefreien Platz unter der großen Linde in Beschlag zu nehmen. „Wir sind es wert, dass die Sonne uns bescheint“, kommentiert ein Pilger das strahlend schöne Wetter, während aus großen Kochtöpfen die Gemüsesuppe aus der Klosterküche ausgeteilt wird und sich nach und nach die Bänke füllen.
Ein symbolkräftiges Bild für das Herzensanliegen der beiden Pfarrer von Heilig Kreuz, zu der die Wallfahrtskirche gehört. Türen öffnen und einladend Kirche sein: Marcus Fischer und Michael Pauly haben aus diesem Grund im vergangenen Jahr die Hildegard-Wallfahrt ins Leben gerufen. „Die vielen Menschen, die aus der ganzen Welt hier ankommen, so annehmen, wie sie sind“, gibt Pfarrer Fischer die Losung aus, die an diesem Tag besonders sinnfällig wird. Manch einer aus der Pilgerschar sitzt im Rollstuhl, braucht eine Gehhilfe oder anderweitig Unterstützung – langsam und bedächtig geht es in die Kirche. Doch unüberhörbar ist dort zugleich die Fröhlichkeit, beim gemeinsamen Gesang wie beim Pfeifen mit dem Bischof. Und unübersehbar ist der andächtige Ernst, mit dem die Gottesdienstbesucher die Einzelsegnung mit der Wallfahrtsreliquie erleben, die die Abtei St. Hildegard für die Wallfahrt geschenkt hat. Zum bischöflichen Segen bittet Bischof Georg Bätzing unter Applaus auch Altbischof Franz Kamphaus an den Altar: Berührender Abschluss eines festlichen Tages.
Zur Wallfahrtszeit vom 10. Mai bis 7. Oktober wird in St. Hildegard (Marienthaler Straße 3) jeweils samstags um 11 Uhr Pilgermesse gefeiert, auf Wunsch mit Einzelsegnung mit der Hildegard-Wallfahrtsreliquie. Weitere Informationen unter www.heilig-kreuz-rheingau.de.